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Lenzburgerin Rosmarie Zobrist: «Wir müssen schauen, dass Lenzburg kein Allerweltsort wird»

Im Rahmen meines Masterstudiums in Online Business und Marketing an der Hochschule Luzern habe ich im Jahr 2022 eine achtteilige Blog-Serie über unser Lenzburg verfasst. Heute mit Rosmarie Zobrist (94), die seit über 55 Jahren in Lenzburg wohnt und sich nicht nur für ihre Stadt, sondern im Besonderen auch für die Frauenrechte und die Jugend einsetzt.

Nachtrag: Das nachstehende Interview mit Rosmarie Zobrist habe ich im Frühling 2022 geführt. Im Dezember 2022 ist sie gestorben. Mein herzliches Beileid an die Trauerfamilie.

Als ich Rosmarie Zobrist per Mail (!)  – und natürlich «per Sie» – für ein Interview angefragt habe, antwortet sie mir: «An meinem 90. Geburtstag habe ich mir vorgenommen, nur noch zu Polizisten und ähnlich positionierten Zeitgenossen «Sie» zu sagen. Seit 4 Jahren ziehe ich den Vorsatz einigermassen durch.» Und so wurden wir per Du. Ein paar Wochen später stand ich im Garten von Rosmarie und traf sie bei herrlichstem Frühlingswetter zum Interview.

Manuel: Du seist zu Beginn ein fremder Fötzel in Lenzburg gewesen, hast du mir im Vorgespräch gesagt. Wie bist du überhaupt nach Lenzburg gekommen?

Rosmarie: Ich bin ursprünglich Dottikerin und musste für die Bezirksschule nach Lenzburg. Das war damals nicht üblich, die meisten gingen nach Wohlen. Doch mein Vater – er war politisch aktiv – hatte damals gerade etwas Krach mit den Wohlner, weshalb er mich nach Lenzburg schickte (lacht). Gottlob kam auch noch ein anderes Mädchen aus Dottikon nach Lenzburg.

Wie wurdet ihr in Lenzburg aufgenommen?

Diese Lenzburger haben uns auswärtigen Fötzel nicht geschätzt. Da haben wir uns gesagt: «Dene zeigemers jetzt!». Nach einem halben Jahr haben wir dazugehört (schmunzelt).

Als du in die Bezirksschule kamst, wurde die Welt vom Zweiten Weltkrieg erschüttert. Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?

Als die zweite Generalmobilmachung im Mai 1940 kam, mussten alle unsere Lehrer bis auf drei, die zu alt waren, einrücken. Der Stundenplan wurde jeden Tag neu erschaffen. Es hiess dann auch mal Kartoffelkäfer ablesen oder Rüben erdünnern anstelle von Mathematikunterricht. Abundzu gab es Fliegeralarm – da mussten wir jeweils in den Keller. Und dann gab es da diese Zugbarriere in Hendschiken…

Zugbarriere?

Ja, an dieser Zugbarriere, die mehr geschlossen als geöffnet war, haben wir Weltgeschichte erlebt! Da führte damals die Zuglinie zwischen Deutschland und Italien durch, die sogenannte «Aarau-Hendschiken-Dottikon-Dintikon-Mailand»-Linie. Bei den Zügen aus Deutschland sagte man immer, die transportieren Kohle. In Wohlen ist dann mal ein Wagen entgleist und musste umgeladen werden. Und was ist unter der Kohle hervorgekommen? Maschinengewehre! So viel zum Thema «keine Waffentransporte durch die Schweiz»… Noch vor dem Krieg fuhren Züge durch, wo Kinder Fähnlein mit der Aufschrift «Kraft durch Freude» schwenkten. Alles durch Lenzburg!

Deine Bez-Zeit hast du also in Lenzburg verbracht. Wie bist du denn fix nach Lenzburg gekommen?

Dazwischen habe ich Lenzburg «Adieu» gesagt. Nach Stationen in Zürich und Baden habe ich in Aarau geheiratet und gewohnt. Lenzburg habe ich nur noch gestreift. Leider waren auch das Jugendfest und der Maienzug immer am selben Tag – da habe ich mich jeweils für den Maienzug und somit für Aarau entschieden. Als mein Mann dann im Raum Lenzburg/Hendschiken sein Forschungslabor ausbauen wollte, landeten wir 1961 in einem schönen Haus am Bollberg, einem der Hächler-Häuser.

Das musste ich auch lernen: Verschiedenste Häuser haben einen Namen und die muss man kennen.

Genau. Der Hächler war der Star-Architekt von Lenzburg. Der ganze Bölli-Hang hat ihm gehört. Unser Haus hat er in den 30er-Jahren erbaut und es ist heute noch ein super Haus! Damals war der Verkehr an der Niederlenzerstrasse aber noch nicht so üppig.

Stimmt, heute ist’s recht laut dort.

Früher wollte man an einer Strasse wohnen – sehen und gesehen werden! Deshalb war das Quartier hier hinten (wo Rosmarie heute wohnt) gar nicht beliebt.

Rosmarie Zobrist in ihrem Haus in Lenzburg
Die 94-jährige Lenzburgerin Rosmarie Zobrist wohnt seit über 55 Jahre in Lenzburg (Bild: CH Media/Chris Iseli)

Wie bist du denn hierhin gekommen?

1990 habe ich mir etwas Kleineres gesucht. Es war finanziell zwar eine schlechte Zeit, ein Haus zu kaufen – der Hypothekarzins lag bei 7% – aber dieses Haus hier war immer ausgeschrieben. Offenbar hatten die grossen Wohnlandschaften in diesen kleinen Zimmern keinen Platz (lacht). Ich habe mich aufjedenfall wunderbar in der Nachbarschaft eingenistet und habe gesehen, wie Leute gekommen und gegangen sind. Und wie jede Fläche Gras verbaut worden ist.

Das ist ein gutes Stichwort. Kannst du mal beschreiben, wie Lenzburg ausgesehen hat, als du 1961 hierhin gezogen bist?

Lenzburg hatte etwa 5’000 Einwohner und etwas mehr als die Hälfte des heutigen Lenzburgs war gebaut. Als wir hierhergezogen sind, wurde gerade der grosse Block im Langsamstig und die drei Blöcke in der Marktmatten gebaut.

Und der Bahnhof? Der hat wahrscheinlich gleich ausgesehen wie heute (lacht)

Nein, als die Heitersberglinie 1975 aufgegangen ist, brauchte es plötzlich einen grösseren Bahnhof. Plötzlich hatten wir Schnellzüge!

Gibt es denn etwas von damals, was heute noch genau gleich ist?

Ein Laden in der Rathausgasse gibt es noch heute: Willener-Meier Mode. Früher war das noch ein Stoffgeschäft. Heute liegen Herrenhemden auf den gleichen Regalen wie früher die Stoffballen. Der Inhaber, Herr Willener, war Herrenschneider und ging mit seinem Muster-Köfferli und dem Fahrrad in die Region hinaus, hat den Männern die Masse genommen und Anzüge geschnitten. Ein Laden, den du leider nicht mehr erlebst: Der Bertschi. Das war eine Quincaillerie (Französisch für Krimskram-Baumarkt) und dort hatte es unermesslich viele Sachen – ein Paradies! Sein Laden ist übrigens in diesem Buch, mit alten Bildern von Lenzburg…

Ja genau, «Liebes altes Lenzburg» heisst es. Das habe ich in meiner Blogserie auch vorgestellt.

Ja genau, dort ist der Bertschi Röschli auch noch drin. Er war übrigens auch der grosse Feuerwerker und Kanonier von Lenzburg! Und ein Wohltäter der seltsamen Art: Er hat zum Beispiel den Italienern hier ein Lokal verschafft und sie väterlich betreut.

Lenzburg von früher im Jahr 1951
Wo Lenzburg noch nicht gebaut war: Lenzburg anno 1951 (Bild: ETH Bibliothek)

Du warst ja auch extrem engagiert in Lenzburg.

Ja, ich habe mich sehr früh für das Frauenstimmrecht eingesetzt. Als es dann kam, habe ich mir gesagt: «Wenn wir es schon haben, sollten wir uns auch engagieren!».

Wo warst du denn überall aktiv?

Zuerst in der katholischen Kirchgemeinde. Das war der erste Ort, wo ich mich überhaupt engagieren konnte. Ich kann mich noch gut an eine Art Landsgemeinde der weltlichen Kirche im Casino in Baden erinnern. Wir vom Frauenverein waren Exoten dort. Die Männer konnten es nicht sein lassen und haben grossartig erzählt, wie gut sie denn auch alles machen. Da hat’s mich «verchlöpft» und ich bin aufgestanden: «Also Tschuldigung, wir zahlen imfall auch Steuern! Und schaut mal die Geschlechterverteilung in der Sonntagsmesse an – da sind die Mehrheit Frauen! Also lasst uns auch mitreden!» Danach herrschte betretenes Schweigen (lacht).

Die kannten das gar nicht, dass da eine Frau aufsteht und ihre Meinung sagt.

Ja, es ist doch alles so gut gelaufen vorher! Ich war dann die erste Frau in der katholischen Synode, der weltlichen Verwaltungseinheit der Kirche. Zu diesem Zeitpunkt war das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene noch nicht eingeführt, aber es hat sich angebahnt. Im Grossratsgebäude hat man dann mal begonnen, eine Damentoilette einzubauen (lacht).

Du warst also vor allem in der Kirche aktiv.

Ja, dort habe ich den parlamentarischen Betrieb kennengelernt. Dort gibt es auch Exekutive, Legislative, etc. Und in Lenzburg war ich auch in der Kirchengemeinde aktiv und war die Brücke zwischen dem italienischen und Schweizer Pfarreirat. Ich musste dafür sorgen, dass man gegenseitig Verständnis füreinander hat. Mit gemeinsamen Festen hat das ganz gut geklappt, so konnten wir eine gute Verbindung aufbauen.

Also eine Integrationsfigur!

Ja, das ist jetzt etwas hochgegriffen (schmunzelt). Es war aber der schönste Freiwilligenjob, den ich hatte.

Und dann ist irgendeinmal der Einwohnerrat gekommen.

Ja genau, im Jahr 1984. Da bin ich nachgerutscht. Mein Vater war Gründungsmitglied der Aargauer Bürger- und Bauernpartei (heute SVP), ich ging aber in die CVP (heute Die Mitte), weil es eine kleine, sehr lebendige Fraktion war.

Wie war das damals im Einwohnerrat, der wahrscheinlich noch sehr Männer-dominiert war?

Eindeutig Männer-dominiert! Wir Frauen waren in Minderzahl. Die FDP hatte eine Frau, die SP hatte ein paar und ich eben in der CVP. Wir waren wirklich wenig. Die Fraktionskollegen haben oft gesagt: «Jaja, du bist «es Ordligs», aber wir wissen es besser». (lacht)

Wie hast du es denn geschafft, dass man auch auf dich hört?

Ich musste mir gut überlegen, wie ich formuliere, damit man mir zuhört. Ich habe dann kleine Seitenhiebe oder etwas Anekdotisches von Lenzburg eingeflechtet und dann ging’s! (lacht)

Was war politisch dein Steckenpferd?

Als Mitglied der Geschäfts- und Rechnungsprüfungskommission habe ich alle Details des grossen haushalten, den eine Gemeinde darstellt, mitbekommen und gelernt, dass oft kleine Entscheidungen Langzeitwirkung haben können. Als ehemalige Lehrerin war ich Spezialistin für Jugendarbeit und wurde Präsidentin der Jugendarbeitskommission. Damals war ein autonomes Jugendzentrum im Tommasini geplant. Das war ein heisses Eisen in Lenzburg. Es hiess: «Wir haben uns früher noch bei der Chäsi getroffen, da braucht es kein Zentrum!» Jede «vertrampte» Bierbüchse in Lenzburg ging auf das Konto der Jugend. Und dann habe ich Telefonate erhalten…

Indirekt warst immer du schuld.

Dabei ist es eben das spannende, dass ein autonomes Jugendhaus selber Verantwortung tragen muss. Ich ging sie aufjedenfall regelmässig besuchen. Da ich da schon im Grossmütter-Alter war, war ich nicht so eine Reizfigur wie man das im Eltern-Alter wäre.

Rosmarie Zobrist in ihrem Haus in Lenzburg
Rosmarie Zobrist hat sich früh für das Frauenstimmrecht eingesetzt. Als es dann kam, hat sie sich gesagt: «Wenn wir es schon haben, sollten wir uns auch engagieren!» (Bild: CH Media/Britta Gut)

Was ist am heutigen Lenzburg besser und was schlechter?

Das kann ich nicht werten. Da viele Leute nach Lenzburg gekommen sind, die keinen Bezug zur Stadt hat, müssen wir schauen, dass Lenzburg nicht ein Allerweltsort wird, sondern noch den Kern behält. Es muss nicht der alte Charme von früher erhalten bleiben – der war auch nicht immer so charmant – aber das Heimgefühl sollte weiterhin aufkommen.

Und wie stellen wir das sicher?

Das ist eine gute Frage. Wir Alt-Eingesessenen merken zum Beispiel, dass man auf der Strasse nicht mehr «Grüezi» sagt. Ich sage dann jeweils konsequent «Grüezi» (lacht). Hier könnte man ansetzen. Oder auch dass man in der Nachbarschaft versucht miteinander zu reden. Sehr gut finde ich zum Beispiel die Teehütte in der Widmi. Ich weiss aber natürlich nicht, ob die jüngere Generation überhaupt daran interessiert ist, hier eine Heimat zu finden. Oder wirst du deine Pension mal in Lenzburg feiern? (lacht)

Ich sage immer, Lenzburg ist der perfekte Ort für alle drei Lebensabschnitte: Urbane Quartiere für das junge Alter, schöne altehrwürdige Häuser für Familien – und zwei Altersheime für den Lebensabend. Lenzburg ist eine Stadt, wo du dein Leben verbringen kannst.

Ja, das stimmt. Wir haben uns auch Mühe gegeben. Wir haben immer versucht, Generationenübergreifend zu denken, wenn wir was geplant haben. Und da muss ich die Frauen rühmen: Seit sie in der Politik sind, wurde das verstärkt.

Anderes Thema: Was sind deine Lenzburg-Tipps?

Das ist natürlich der Goffersberg, ein wahrer Kraftort. Solange mich meine Beine noch getragen haben, bin ich jeden Tag über den Goffersberg spaziert. Jeder Tag hat seine eigene Stimmung dort oben. Einfach ein toller Ort! Ich habe immer gesagt, als Geist gehe ich mal auf den Goffersberg. Und bei den jungen Leuten in Lenzburg, wurde es schon fast zum Ritual, dass sie einmal auf dem Gofi schlafen. Eine magische Nacht auf dem Goffersberg zu haben – das hat einfach dazu gehört!

Und Beizen-technisch?

Ja, da haben sie den Frauen was genommen! Dort wo heute das McArthurs ist, war früher das Gurini, die delikateste Konditorei nah und fern. In Sachen Patisserie unschlagbar! Der einzige Genuss der Lenzburgerin – seinerzeit vor der Emanzipation – war es, am Dienstagmorgen, nach dem Gang über den Wochenmarkt, einen Kaffee im Gurini zu nehmen. Ich bedaure sehr, dass es das Gurini nicht mehr gibt. Meine Lieblingsbeiz ist der Ochsen, wo ich regelmässig hingehe. Die Enkel wissen mittlerweile, dass ich dort reserviere. (schmunzelt)

Geburtstage werden also im Ochsen gefeiert?

Geburtstage feiere ich mittlerweile in der Besenbeiz unten (an der Brunnmattstrasse). Kennst du sie?

Nein, sagt mir nichts.

Ja, das hast du noch vor! Die Besenbeiz wird von einem Schauspieler und seiner Frau in einem ehemaligen Schopf geführt. Es gibt einfach ein Menü, vegetarisch oder Fleisch. Und die kochen sehr gut! Bei schönem Wetter sitzen wir draussen unter den Bäumen, was wunderschön ist. Und wenn es regnet, sitzen wir drinnen, wo es etwas eng ist, aber dafür lernt man neue Leute kennen (lacht). Sie haben immer Donnerstagabends geöffnet. Diese Besenbeiz muss man erlebt haben!

Zum Schluss: Was wünschst du Lenzburg für die Zukunft?

Also zuerst muss ich sagen, dass ich keine Zukunft mehr habe, sondern nur noch eine Gegenwart. Und die ist auch schön! Für Lenzburg wünsche ich mir, dass es menschlich bleibt. Dass man merkt, dass die Leute nicht nur hier wohnen, sondern auch gerne hier sind. Dass sie dem Ort auch etwas geben können in ihrer Gegenwart. Und dass man sich auch bewusst wird, wie schön wir es haben hier. Und man Freude hat, an den Leuten, denen man hier begegnet.

Schönes Schlusswort! Rosmarie, vielen Dank für das Interview.


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